Dreißig Sekunden – #24Autoren mit Kia Kahawa

von | 24.12.2017 | 0 Kommentare

Ein sterbender Mann im Krankenhaus durchläuft die fünf Phasen der Trauer und bereut…

Dreißig Sekunden

Solange mein Herz noch schlägt, ist es nicht vorbei.
Ein schwarzer Schnabel klopft gegen das Fenster und bringt Abwechslung zum technisch monotonen Piepen. Endlich ein bisschen Leben durch den tschilpenden Vogel.
Ich beobachte das Lebewesen, das eifrig nach Artgenossen ruft. Der kleine Körper hält still, nur die äußersten Deckfedern vibrieren bei jedem Laut. Selbst wieder abheben, darauf freue ich mich. Irgendwann kommt die Chance, die Welt von oben zu sehen. Doch bis dahin bleibt mir nichts übrig, als Pieptönen zu lauschen und zu existieren. Ein leiser Gedanke an meine Tochter lässt mich lächeln. Vor einem Hangstart hatte sie nie Angst. Wusste nicht, was vor ihr liegt oder was kommen würde. Und doch konnte sie die Augen zukneifen, den Mund aufreißen und laut schreiend ins Abenteuer stürzen.
Gemeinsam schweben, sich größer fühlen als alle Berge … Abenteuer waren die schönsten Erlebnisse ihrer Jugend.
So schnell wie möglich will ich hier raus. Dann sind wir frei wie der unentwegt zwitschernde Vogel auf meiner Fensterbank.

Aber wir fliegen nicht. Dreißig Sekunden kam ich zu spät. Hätte sicherlich eine Ausrede gehabt. Doch dafür war keine Zeit. Zu träge, zu überfordert, zu dumm! Wieder einmal war es eine lächerlich geringe Zeitspanne, die zu versäumen ich gewagt hatte. Das gnadenlose Elend von Welt erschütterte sich, ohne einen Moment innezuhalten. Eine weitere verpasste Chance, die ich auf meinem Unterarm markieren musste! Bald ist da kein Platz mehr.
Keinen einzigen Atemzug verdient ein Scheusal wie ich! Und doch nutze ich Luft, die einem bedeutsamen Leben einst fehlte, um dieses widerwärtige Stück Mensch am Leben zu halten. Wäre ich doch nie geboren worden! Sie ist abscheulich, diese Verantwortung für das eigene Handeln. Wenn man handlungsunfähig ist, sorgt niemand für Gerechtigkeit! Weisheit macht kaum vergessen, dass ich mich selbst aufgegeben habe. Zurecht.
Wie kann man seinem Leben so viele Einschränkungen antun? Vertagen, limitieren und einsperren lassen wir uns! Es ist nicht genug, ein ruiniertes Leben zu führen und über Jahre ein inszeniertes Trugbild nach außen zu transportieren, nein. Zu allem Überfluss war es offenbar vorausbestimmt, dass das Leben eines jungen Mädchens wegen eines idiotischen Fehlers an der steinernen Wand zerschellt. Viele Jahre habe ich mir gewünscht, der Tod hätte mich getroffen. Doch das habe ich gar nicht verdient. Verdient habe ich das ewige Leben! Ewiges Leiden! Die Gedanken an all die Möglichkeiten, die ich aus dem Nest geworfen habe, als seien sie verstoßene Küken. Dreißig lebenswerte Sekunden verpasste ich und verdiene nicht weniger als dreißig Jahrtausende, in denen mich die Schuld quält. Doch ich Idiot wagte es, weiterhin mein Schauspiel voranzutreiben. Jämmerlich!
Raum für mich sei zur Genüge vorhanden.
Das Leben könne warten.
Später.
Anfangen zu leben könne man noch, wenn die Finanzen stimmten. Zeit mit der Familie verbringen, dafür war der Urlaub da. Leben sei das, was am Wochenende stattfand.
Auf meinem Laken liegt ein bemitleidenswerter Tölpel.
Der geflügelte Nachbar stößt sich weg, spannt die Flügel und ist verschwunden. Ich habe Verständnis. Mit jemandem, der so arm im Geiste ist, würde sich niemand abgeben wollen. Nicht einmal ich. Und doch bin ich die einzige Gesellschaft, die mir bleibt.

Ich atme durch. Die matt gestrichene Wand raubt meine Wut, weil sie mich nicht weiterbringt. Gnadenlose Erschöpfung nimmt ihren Platz ein. Wenn ich doch nur etwas bewegen könnte! Aber es ist mir nicht einmal möglich, meinen eigenen Körper mehr als ein paar Zentimeter zu bewegen.
Womöglich sollte ich Meditation versuchen, doch erscheint es sinnlos, die eigene Mitte zu finden, nur um diese verlassen zu können. Die Zeit läuft mir davon.
Sterbende, die es eilig haben, sind bemitleidenswert. Sie stehlen sich davon und entziehen sich jeder Verantwortung. Doch wer verlassen vor sich hinvegetiert und seine Zeit absitzt, ist keinen Deut besser.
Ein Wunder muss her. Dreißig Sekunden können mich nicht vollends erleuchten, doch kann in dieser Zeit Übernatürliches geschehen.
Ich will alles dafür geben, bald wieder das Lachen meiner Tochter wahrzunehmen. Dafür würde ich alles geben. Selbst ewiges Leben würde ich auf mich nehmen. Ewig in einem funktionslosen Körper gefangen sein, der doch wenigstens zur Wahrnehmung fähig ist. Das wäre es mir wert, sie zurückzuholen. Die Gedanken an ihr strahlendes Gesicht schmecken bitter. Dennoch versuche ich, meinen letzten Rest Hoffnung zu bündeln.
Was aber, wenn sie längst ein Vogel ist? Sie könnte als Tier wiedergeboren worden sein. Ebenso kann mir das passieren. Dann wäre ein Gebet der falsche Weg, meine wiedergeborene Tochter lebendig zu wissen. Sie sähe mir vom Fensterbrett aus beim Sterben zu.
Und würde ich wiedergeboren, würde sie im Himmel ewig auf mich warten. Wie kann ein Leben hermetisch, gar vollkommen sein, wenn die erlangten Antworten keinen Unterschied über den Ausgang machen?
Mein Engel möchte sicherlich fliegen. Doch ob über oder unter den Wolken, darüber haben wir nie gesprochen.
Was für ein Vater bin ich, der derart Wichtiges nicht weiß! Kein Mensch darf solche Entscheidungen der eigenen Kinder verpassen. Doch ich kann mich nicht an ihre Entscheidung erinnern; so fällt es mir schwer, meine eigene zu fällen.
Die Kopfschmerzen lassen nach.

Hätte ich mir doch ermöglicht, in diesem Moment die zarteste Stimme auf Erden zu hören. Genau jetzt könnte sie neben mir stehen, meine Hand halten und mich mit Anekdoten davon ablenken, was für ein Nichtsnutz ich gewesen bin. Ihre strahlenden Augen hätten von Freiheit geschwärmt, ihre Sommersprossen jedes Grinsen geziert. Nur eine kümmerliche halbe Minute trennt uns für immer. Jetzt habe ich Zeit, könnte locker dreißig Sekunden verschenken. Ohnmächtig, in die Vergangenheit einzugreifen. Ich halte es nicht mehr aus, mir selbst ausgeliefert zu sein. Ohne Wegweiser, über richtig und falsch. Manchmal, da kommt man an einen Punkt, an dem es nicht weitergeht. Man kann nicht für die Zukunft sorgen oder loslassen, und es bleibt unmöglich, die Vergangenheit zu akzeptieren. Ich habe keine Zukunft.
Das Pochen in meiner Brust wird leiser. Endlich verschwinden die überflüssigen Gefühle.
Pickende Geräusche an der Fensterscheibe. Erneut drehe ich meinen Kopf.

Ein Krächzen ist zu hören. Erleichterung macht sich in mir breit. Die Natur gönnt mir, jemanden wahrzunehmen.
Das Tierchen auf dem Fensterbrett hat keine andere Wahl, als auf seine Freunde zu warten. Es wird viele weitere Rufe brauchen, bis Gesellschaft kommt.
Ob überhaupt jemand kommt, kann niemand mit Sicherheit sagen. Im Gegenteil. Heute sterbe ich allein.
Mein gefiederter Freund hinter der Glasscheibe vergräbt seinen Schnabel unter dem Flügel. Jeder Atemzug fällt mir schwer, doch ich habe kein Bedürfnis, nach Luft zu schnappen. Irgendwann ist es irrelevant, ob man loslassen kann oder nicht. Dieser eine Zeitpunkt, der es unerheblich macht, ob die Erdenschwere mich an den Boden kettet, betont die Unmöglichkeit eines Endes. Man kann sich nicht darauf vorbereiten, in welche Richtung der Wind umschlägt. So wenig konnte ich mich darauf vorbereiten, welche Gedanken mich am Ende begleiten würden.
Bleierne Müdigkeit überfällt mich. Sie entmannt mich geräuschlos. Ich akzeptiere es.
Erschöpft schließe ich die Augen. Besser so. Regungslos mit offenen Augen daliegen, so will ich das nicht.
Ich bin mir sicher, dass noch etwas kommt. Kenne nicht alle Antworten und weiß zugleich, dass ich nicht loslassen können muss. Einzig der letzte Gedanke muss ein positiver sein. Und wenn es nur die rein fiktive Vorstellung der Leichtigkeit des Loslassens ist, obgleich sie sich nie bewahrheiten wird. Etwas in mir akzeptiert, was geschehen ist, doch es versucht gleichzeitig, mir etwas zuzuschreien. Eine wichtige Botschaft wie hinter dicken Scheiben ausgesprochen.
Hätte ich nur dreißig Sekunden zugehört.

Danke für #24Autoren

Ihr seid der Hammer.
Die Vorbereitungen für den literarischen Adventskalender waren umfangreich, und ich hätte mir nie vorher erträumt, wie viel 24 Autoren eigentlich sind, wenn es um E-Mails, Zusammentragen von Pitches, Inhalten, Fotos und Social-Media-Links ist.

Danke an jeden Einzelnen von euch, danke, dass ihr diese Aktion zu etwas Lebendigem und Einzigartigem gemacht habt. Ihr habt mir damit zum Geburtstag alles geschenkt, was ich wollte: Diese ganzen Buchmenschen fühlen sich so sehr nach Heimat an, dass ich nichts weiter zum Glücklichsein brauche als ein vielseitiges Netzwerk.
Ich hoffe, dass ihr, liebe Leserinnen und Leser, den ein oder anderen Autor entdeckt habt, den ihr vorher nicht kanntet. Aber ich glaube, in diesem Punkt kann ich sehr, sehr stolz auf mich sein.
Ja, was kann ich hier noch schreiben?

Danke.

Alles Liebe,

Kia



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