Hat die Literaturszene ein Problem mit Gewalt?

von | 12.02.2019 | 0 Kommentare

Heute möchte ich ein Interview mit Nora führen und dabei auf Themen eingehen, die aktuell auf Twitter die ein oder andere große Runde machen. Es geht um Empathie, und damit um Trigger, Sensitivity Reading, Gewaltverherrlichung und wie sich das alles in der Literaturbranche niederschlägt.

Aufgefallen ist mir Nora neulich auf Twitter, als sie einen Thread über eine Autorenkollegin verfasst hat. Darin ging es um Gewaltverherrlichung in einem Manuskript, das sie im Korrektorat hatte.

Dabei gab es bis Seite 177 fast drei Dutzend verbale “Nein”s, die vom Love Interest ignoriert wurden und acht körperliche “Nein”s. Am Ende kommen die beiden zusammen. Klingt nicht nach großer Liebe, sondern nach großer Fremdbestimmung.

Nora, magst du diesen Tweet kommentieren?

Klar. Ich tweete ja immer wieder aus dem Lektorat zu sensiblen Themen, gute wie schlechte Beispiele. Wobei Letzteres bisher noch immer aus dem Verlag gekommen ist – und das muss kritisiert werden, finde ich. Wie ich schon in der Diskussion auf Twitter schrieb, hatten 8 von 24 Manuskripten, die ich in meiner kleinen Lektorat-Karriere gemacht habe, problematische Themen. Meist waren es Liebesgeschichten, die sehr einseitig verliefen. Heißt: Nein wird ignoriert, körperlich Gewalt eingesetzt, Frauen (oder auch Männer im Gay Romance) zu “ihrem Glück gezwungen”. Was Bewegungen wie #MeToo zu Recht anprangern, wird in Jugendromanen auf einmal als sexy und große Liebe hingestellt? Das ist doch ein Widerspruch. Aber auch andere Problematiken, zum Beispiel Rassismus, sind mir schon in Manuskripten untergekommen. Gerade beim Thema Selfpublishing wird oft darüber geschimpft, dass nun jeder alles veröffentlichen kann und so die “Wächter”-Funktion der Verlage ausgehebelt wird. Wenn Verlage aber solche Manuskripte unreflektiert aufkaufen und veröffentlichen, ist eine “Wächter”-Funktion ohnehin nicht gegeben.

Welche konkreten Probleme siehst du im Zusammenhang mit dieser Art der Gewaltverherrlichung in der aktuellen Literatur, und wo kommt sie vor allem vor?

Da würde ich zwei Arten von Gewalt unterscheiden: körperliche und sexuelle Gewalt. Ersteres sehen wir überall in unserer Gesellschaft, in Hollywood-Filmen, bei Serien wie Game of Thrones, Games wie “Call of Duty” … und natürlich auch in der Literatur. Thriller, Fantasy und Horror dürften hier am explizitesten sein. Gewalt als Thema zu erforschen und darzustellen ist für mich nicht das Problem. Wer mein eigenes Geschreibe kennt, allem voran die Galgenmärchen, weiß, dass ich selbst harte Gewaltszenen habe. Entscheidend ist der Blickwinkel, mit dem wir Gewalt betrachten. Und da sehe ich aktuell den Trend in unserer Gesellschaft, jene, die Gewalt ausüben, zu glorifizieren und sogar zu sexualisieren. Vor ein paar Tagen ist mir das extrem bei dem Trailer zu dem Film “Extremely Wicked, Shockingly Evil and Vile” aufgefallen. Dabei handelt es sich um einen Hollywood-Film zu dem Serienmörder Ted Bundy, der sicher über 30 Frauen vergewaltigt, brutal ermordet und sogar noch mit ihren Leichen Geschlechtsverkehr hat (darunter auch ein 12-jähriges Mädchen, sein letztes Opfer) – es gibt aber auch Schätzungen von über 80 Opfern. Der Film ist noch nicht draußen, entsprechend kann man sich noch keine Meinung zu ihm bilden. Zum Trailer schon. Und von den Schnitten und von der Musik wirkt der nun mal wie eine schwarzhumorische, maximal unterhaltsame Antihelden-Komödie.

Und das ist deiner Meinung nach unpassend.

Wie passt das mit der realen Figur zusammen, deren Taten gerade mal 30 Jahre her sind? Wie müssen sich die Familien fühlen, die durch Ted Bundy eine Tochter verloren haben, und nun durch diesen Trailer sehen, ihr Leid ist bedeutungslos und das Spektakel für unsere Gesellschaft wichtiger? Viele Leute verteidigen den Trailer online, dass er Ted Bundy nur “akkurat” porträtiere. Aber es ist eine Entscheidung, ob wir primär von (echten) Opfern, Ermittlern oder Mördern erzählen. Es ist eine Entscheidung, wem wir mehr Bedeutung beimessen oder gar Sympathie entgegenbringen. Und aktuell bekommen das mehr männliche Gewalttäter, sogar Mörder, in unserer Gesellschaft. Es gibt Internetkreise, in denen gelten Amokläufer wie Elliot Rodger als unverstandene Helden. Nicht umsonst ist der durchschnittliche Amokläufer in der westlichen Welt weiß, männlich und Nachahmungstäter.

Du hast von zwei Arten der Gewalt gesprochen. Was hast du zu sexueller Gewalt in der Fiktion zu sagen?

Verübt von Männern, meist gegenüber Frauen, doch auch in queeren Geschichten kann es sexuelle Gewalt geben. Unverhältnismäßig oft begegnet mir diese Gewalt in Liebesgeschichten. Das muss gar nicht mal ein Romance-Buch sein, es kann auch z. B. in einem Fantasy vorkommen, solange eine Romanze zwischen den Hauptcharakteren existiert.

Oft schleicht sich die sexuelle Gewalt allmählich an. Er ignoriert wiederholt ihr Nein, fasst sie gegen ihren Willen an. Irgendwann, aber nicht freiwillig und weil beide Seiten es wollen, landet man aus fadenscheinigen Gründen im Bett. Ich habe hier Szenen bearbeitet, in denen er sie gewaltsam niedergedrückt hat, bis sie vor Schmerzen schrie. Szenen, in denen jemand eine bestimmte Position nicht machen wollte, aber dann einfach dazu gedrängt wurde. Szenen, die sich gefährlich nah am Bereich der Vergewaltigung bewegten.

In den Texten selbst wird das nie als Gewalt begriffen. Sie/Er wehrt sich zwar zu Anfang, aber nur halbherzig. Denn er sieht ja gut aus, und er ist ja begehrt, und das alles ist doch nur ein Ausdruck dessen, wie sehr er einen will. Das ist eine hochgefährliche Message – und eine, die wir tagtäglich um uns sehen. Denn das ist nicht ein Kavaliersdelikt, den nur ein paar Bücher begehen. Sexuell attraktive Männlichkeit wird in unseren Medien – egal ob in Büchern, Filmen, Serien … – regelmäßig mit Gewalt verknüpft.

In der Literaturszene wird sich oft herausgeredet mit: “Aber die Leute wollen das halt schreiben!” Ich bin mir da nicht so sicher. Meine Erfahrung ist, dass die Autor*innen in der Regel nicht merken, was sie da verfassen. Spreche ich sie darauf an, sind sie geschockt, müssen die Sache erst ein paar Tage verarbeiten – und ändern dann alles ganz von allein. Nur einmal hatte ich es, dass eine Autorin darum gekämpft hat, ihren Text diesbezüglich nicht zu ändern. Sie hat aber auch konstant verneint, dass Gewalt in ihrem Manuskript vorkäme. Niemand will gewaltverherrlichend schreiben. Die Leute wollen dominante, “gefährliche” Typen – aber kennen nicht die feine Linie namens Zustimmung, die einen Bad Boy von einem Vergewaltiger unterscheidet. Das Problem: Diese Unfähigkeit, nicht unterscheiden zu können, setzt sich im echten Leben fort. Noch immer gibt es Typen, die glauben: “Nein heißt eigentlich Ja.” Oder die nicht begreifen, dass Stalking und sich jemanden mit Alkohol gefügig zu machen eine Straftat ist.

Wow, du hast definitiv viel zu sagen. Das finde ich nicht nur für unser Interview gut, sondern auch für die Öffentlichkeit. Dann kommt da aber ein großes “Aber” meiner Meinung nach…

 

Mehr dazu tragen Nora und ich morgen im zweiten Teil dieses Interviews zusammen.

Foto (c) Radka Klein von Nachtfrost Photography

Wenn Nora Bendzko nicht schreibt, studiert sie Deutsche Philologie in Wien, macht mit einer ihrer Bands die Stadt unsicher oder lektoriert. Der dunklen Seite der Literatur ist sie ebenso verfallen wie schwarzem Tee. Seit 2016 veröffentlicht sie mit den mehrfach preisnominierten Galgenmärchen düstere Fantasy-Adaptionen der Brüder Grimm.

Homepage: norabendzko.com
Facebook: facebook.com/norabendzkooffiziell
Twitter: @NoraBendzko



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