Orpheus – #24Autoren mit Florian Eckardt

von | 16.12.2017 | 0 Kommentare

June wird auf der Suche nach illegalen Ersatzteilen für ihre Prothesen von einem Koloss erwischt. Eine Verfolgungsjagd beginnt und sie versucht, nicht umgebracht zu werden.

Orpheus (Prolog)

Es war verdammt schwer, sich in den verwinkelten und vollgestopften Gassen der Unterstadt zurecht zu finden. Selbst für June, die den größten Teil ihres bisherigen Lebens dort verbracht hatte, war es verdammt anstrengend, nicht die Orientierung zu verlieren, während sie von einer der Sicherheitsmaschinen verfolgt wurde. Das Ding bestand beinahe vollständig aus Kupfer und Stahl und war ungefähr doppelt so hoch und anderthalb Mal so breit wie June.
Das Mädchen kam beim Laufen leicht außer Atem, was zum Teil auch daran liegen mochte, dass ihr linkes Bein aus einer Prothese bestand, die schon seit Monaten eine einzelne Ansammlung von schrottreifen Einzelteilen war und sich nicht für derartige Sprints ausgelegt war. Das war einer der Gründe, aus dem die Maschine sie verfolgte. Den anderen Grund trug sie dort, wo sich vor Jahren mal ihr linker Unterarm befunden hatte. Auch diese Prothese war alt und kaputt.
Gerade war sie auf dem Markt gewesen, um sich mit ihren Ersparnissen neue Ersatzteile für die Prothesen zu besorgen, damit Eden die verdammten Teile endlich wieder halbwegs auf Vordermann bringen konnte. Nur leider war der Verkauf von mechanischen Bauteilen aller Art, sei es für Prothesen oder zum Bau eigener Maschinen, in der Unterstadt strengstens untersagt.
Als June die Teile eingesackt hatte, war der Koloss wie aus dem Nichts hinter ihr aufgetaucht und hatte sie geradewegs bei einer straffälligen Handlung erwischt. June konnte von Glück reden, dass der Koloss nicht gleich kurzen Prozess mit ihr gemacht hatte, wie er es mit dem Händler gemacht hatte. Das war zwar höchstwahrscheinlich auch nicht vollständig legal, aber in einer Stadt, in der der überwiegende Teil der Bevölkerung in Armut lebte, interessierte sich die Obrigkeit nur bedingt für ein einzelnes Menschenleben.
June bog in eine schmale Gasse zwischen zwei halb zerfallenen Behausungen ab, in der selbst sie mit ihrer zierlichen Körperstatur die Arme eng an den Körper anlegen musste. Am Ende der Gasse vergewisserte sie sich, dass ihr Verfolger nicht mehr hinter ihr war, nur um ein paar Meter weiter mitten in den Koloss hineinzulaufen. Das Mädchen hatte keine Zeit, sich zu fragen, wie er ihr so schnell durch die Gasse hatte folgen können, durch die sein Körper nicht im Ansatz durchpassen konnte. Und auch sonst gab es keinen Weg, den der Koloss hätte nehmen können. Auf dieser Ebene war diese Gasse die einzige Verbindung im Umkreis von ein paar hundert Metern. Die schwerfällige Maschine konnte nicht außenherum gelaufen sein, ohne alles und jeden platt zu walzen. Was in diesem Fall auch viel zu viel Zeit gefressen hätte. Die Maschine streckte den Arm aus, um June zu packen. Doch sie dachte gar nicht daran, sich einfach so schnappen zu lassen und setzte zu einem erneuten Sprint an. Ihr linkes Bein hinkte bei jedem einzelnen Schritt leicht hinterher, was sie wesentlich langsamer machte, als sie sich erhofft hatte.
Auch dieses Mal versperrte der Koloss ihr bereits den Weg. Wieder tauchte June unter seinem Arm hinweg und lief, den stechenden Schmerz in ihrem gesunden Bein ignorierend, direkt auf den Graben zu, der den Außenring der Stadt von der Nadel trennte. Wenn sie ihren Verfolger in der Horizontalen nicht loswerden konnte, musste sie alles auf eine Karte setzen und Höhenmeter überwinden, so dass der Koloss ihr nicht mehr folgen konnte.
June verschaffte sich noch im Laufen einen Überblick und versuchte abzuschätzen, welche der vielen Brücken, die den Graben willkürlich überspannten, sie in der kürzesten Zeit erreichen konnte. June entschied sich für eine Brücke auf Ebene 5, die direkt an der Rohrleitung lag, so dass sie die Rohre zum Klettern benutzen konnte. Ihr Armprothese knackte gefährlich, als sie damit nach einer Rohrleitung griff und sich daran nach oben zog, was ihre Schulter mit einem stechenden Schmerz quittierte. Der Koloss bekam ihr rechtes Bein zu packen, gab dann aber ein jaulendes Geräusch von sich, als June ihm einen ordentlichen Tritt mit dem linken Fuß und eine hübsche Delle an der Schläfe verpasste. Die Maschine ließ ihr Bein los. Sie nutzte die Freiheit, um unter größtem Kraftaufwand den gesamten Weg nach oben zurückzulegen. Auf der Höhe von Ebene 5 ließ sie sich völlig außer Atem auf die Brücke fallen und warf einen Blick in den Abgrund hinab.

Ein Sturz außer dieser Höhe würde mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlich enden. Zwischen ihr und der Nullebene lagen im Zweifelsfall gute 20 Meter freier Fall und es gab kein Geländer, dass sie vom Abgrund trennte. Nur die Rohre hatten dafür gesorgt, dass sie bisher noch am Leben war. Mit einem unbedachten Treffer daran hätte die Maschine die halbe Stadt in Schutt und Asche gelegt. June robbte an den Rand der Brücke, um nachzusehen, ob sich der ihr Verfolger mittlerweile aus dem Staub gemacht hatte. Ein Geräusch, das einem Schmiedehammer gleichkam, der mit voller Kraft auf einen Amboss geschlagen wurde, signalisierte ihr, dass sie sich ihren Ausblick sparen konnte.
June rappelte sich auf. Sie starrte dem Koloss entgegen, der sich ihr in gemächlichen Tempo von der anderen Seite der Brücke näherte. Jeder Schritt klang wie ein erneuter Hammerschlag. Jeder Schritt war ein Akkord in dem Lied, das von ihrem Untergang erzählte. In diesem Moment wusste June, dass sie verloren hatte. Weglaufen hatte keinen Zweck. Der Koloss würde ihr überall hin folgen, denn selbst ihre Klettertortur über fünf Ebenen hatte ihre Lage nicht verbessert. Jedes Mal tauchte der Koloss direkt vor ihr auf. Nur dieses eine Mal nicht, als hätte die Maschine den unausweichlichen Showdown noch ein bisschen hinauszögern wollen. June suchte mit hektischem Blick nach einer Waffe oder zumindest irgendetwas, das sie als solche zweckentfremden konnte. Ihr Blick huschte schließlich über die Eisenstangen, die als Haltegriffe an ihrem Ende der Brücke an der Hauswand angebracht waren. Sie hatte eine dieser Stangen benutzt, um sich von den Rohren auf die Brücke zu ziehen. Dabei kam ihr schlagartig eine Erkenntnis: Das Metallungetüm hatte den Showdown nicht absichtlich herausgezögert. Auf der anderen Seite ragten die Rohre ein Stück höher über der Brücke hervor. An den Rohren hatte die Maschine unmöglich klettern können. Zum Einen hätte man diese Klettertour in der halben Stadt gehört und zum Anderen würden die Rohre zwangsläufig aus der Halterung brechen, wenn die schwere Maschine mit ihrem gesamten Gewicht daran hing.
Dennoch war June sich sicher, dass die lautlose Fortbewegungsmethoden der Kolosse irgendetwas mit den Rohren zu tun hatten. Die gesamte Unterstadt war von Rohrleitungen wie von Adern durchzogen, größtenteils, um Gas durch die Stadt zu transportieren, das zu einem überwiegenden Teil für die Beleuchtung, zum Heizen und zur Energieversorgung der Produktionsanlagen genutzt wurde.
Der Koloss konnte sich weder durch enge Gassen zwängen noch an Rohren nach oben klettern. Das war aber auch gar nicht nötig, wenn er sich, wie June inzwischen vermutete, nicht an, sondern in den Rohren bewegte. So abwegig der Gedanke auch schien, es war die einzige Erklärung, die June in diesem Moment hatte. Und dieser Gedanke weckte in ihr den nötigen Kampfgeist, sich dem Koloss stellen zu wollen. Um ihn zur Strecke zu bringen und sein Geheimnis zu erforschen. Sie kannte jemanden, der mit dieser Information einen ziemlichen Karrieresprung hinlegen konnte.
Fest entschlossen griff June mit ihrem linken Arm nach der Eisenstange und riss sie mit einem Ruck aus der Verankerung. Putz und die kleinen Bolzen, mit denen die Stange an der Wand fixiert war, rieselten hinab. Die Bolzen klangen wie ein defektes Glockenspiel, als sie in die Tiefe fielen und dabei an den Rohren aufschlugen. Prüfend wog June die Stange in der Hand ab. Das Ding war schwerer, als es ausgesehen hatte. Sie wechselte die Stange in die rechte Hand. In der anderen Hand war die Gefahr zu groß, dass der Koloss ihr die Stange mitsamt der Prothese vom Arm riss. Eine nicht gerade erfreuliche Vorstellung. Die Maschine nahm ihr Gewehr in die Hand, stand aber zu nah bei June, um es direkt einsetzen zu können. Das schien der Koloss auch zu bemerken und packte die Waffe am Lauf, um sie im Zweifelsfall als Schlagstock gebrauchen zu können. June überlegte nicht lange und zielte mit ihrer Stange auf seinen Kopf. Nur brachte sie nicht die Kraft auf, mit der Stange so hoch zu zielen, dass sie auch nur in die Nähe des Zieles gekommen wäre. Stattdessen beschrieb die Stange einen Bogen und steuerte auf die Hüfte der Maschine zu, die im letzten Moment den Arm hochriss, um damit den Schlag abzuwehren.
Die Stange schlug gegen den Arm des Koloss, was bei ihm zumindest den Reflex auslöste, die Hand zu öffnen und das Gewehr fallen zu lassen. June warf die Stange achtlos beiseite und hob das Gewehr auf, noch bevor ihr Feind sich danach bücken konnte. Sie hatte noch nie eine solche Waffe in der Hand gehalten. Doch da die Waffe immer noch entsichert war, richtete June den Lauf des Gewehres auf ihren Widersacher, um erneut auf seinen Kopf zu zielen und betätigte den Abzug.
Damit jagte sie dem Koloss eine gewaltige Druckwelle in die Brust. Die Maschine taumelte und stürzte über den Rand der Brücke in die Tiefe, wo ihr noch im Fall die Lichter ausgingen. June wurde vom Rückstoß, den der Schuss aus nächster Nähe mit sich brachte, in die Gasse am Ende der Brücke geschleudert, wo sie eine Weile benommen liegen blieb.
June sammelte sich. Mühsam richtete sie sich auf. Vorsichtig spähte das Mädchen über den Rand der Brücke und stellte zufrieden fest, dass ihr Feind sich nicht mehr bewegte. Seine Gliedmaßen waren seltsam verdreht und nicht mal die Lampen für den Reservestrom leuchteten. Sie sollte sich besser beeilen, die wichtigen Teile zu Eden zu bringen, bevor jemand anderes auf die Idee kommen konnte, den Koloss auszuschlachten. Der Lärm des Aufpralls musste mehrer hundert Meter weit zu hören gewesen sein. June graute es davor, die vorherige Klettertortur in die Gegenrichtung wiederholen zu müssen. Doch wenn sie Eden eine Zukunft oberhalb der Zentralplaza ermöglichen wollte, blieb ihr nichts Anderes übrig. Wann würde sie je wieder eine solche Gelegenheit bekommen?

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Foto: Kia Kahawa

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