Termine – #24Autoren mit Wiebke Tillenburg

von | 07.12.2017 | 0 Kommentare

Unsere Zeit ist kostbar. Doch was ist mit den schrulligen Verwandten und entfernten Bekannten? Hätten sie nicht doch etwas davon verdient?

Termine

Schnellen Schrittes biegt Dominik um eine Häuserecke und stolpert beinahe über einen Berg aus Lumpen, die jemand an der Wand aufgestapelt hat. Knapp weicht er in eine Pfütze aus grauem Schneematsch aus. „Scheiße!“, entfährt es ihm. Er wischt sich den Dreck notdürftig von den teuren, auf Hochglanz polierten Designerschuhen. Plötzlich regt sich das Lumpenbündel und ein Paar trübe Augen blicken ihm aus einem faltigen Gesicht entgegen. Das Gesicht gibt ein verärgertes Grunzen von sich.
„Verzeihung, ich habe sie gar nicht gesehen“, sagt Dominik. Er greift in seine Manteltasche und wirft dem Bettler einige Münzen in die Büchse, die vor dem Berg aus Schlafsack und alten Decken steht. Beiläufig wundert er sich, dass der Mann hier in diesem zugigen Häuserdurchgang sitzt, der zudem nur in einen schäbigen Hinterhof führt. Er fixiert die Haustür, die sich nicht weit von dem Posten des Obdachlosen befindet. Wer soll hier vorbei kommen? Außer der Hausbewohner und dem Postboten, überlegt er. Immerhin ist er jetzt hier. Denn die Haustür, oder vielmehr einer der Bewohner dahinter, ist sein Ziel. Doch warum die Eile? Eigentlich will er doch gar nicht hier sein.
„Alle haben es eilig“, murmelt der Bettler mit schwerer Stimme.
„Wie bitte?“, fragt Dominik überrascht.
„Die Eile. Alle laufen vorbei. Keiner sieht was von der Welt oder den Menschen.“
Entgegen seiner sonstigen Art, geht Dominik auf das Gerede des Bettlers ein. „Sie haben wohl keine Termine“, erwidert er wenig einfühlsam.
Der Alte bricht in bellendes Gelächter aus. „Termine. Ich hab nur einen Termin und auf den kann ich wahrscheinlich noch lange warten“, sagt er, als er sich wieder beruhigt hat.
„Meinen Sie etwa den Tod?“, fragt Dominik.
„Nein, nicht den Tod. Der braucht keinen Termin. Der kommt wenn es ihm passt. Ich warte auf einen Besuch.“
„Aha“, bemerkt Dominik, der sich ärgert, überhaupt auf die Worte des Mannes eingegangen zu sein. Entschlossen geht er auf die schlichte Tür zu, um gleich darauf ratlos zu verharren.
„Was nu?“, fragt der Bettler. „Haben sie sich im Termin geirrt?“. Er kichert wie ein kleiner Junge, der einen schmutzigen Witz gemacht hat. Dominik ignoriert das Gekicher des Alten und sagt nachdenklich: „Das ist schon komisch mit den Besuchen. Jahr für Jahr nimmt man sich vor, eine bestimmte Person zu besuchen, aber es kommt immer etwas dazwischen. Ein Arzttermin. Die Arbeit. Ein Urlaub. Irgendwas ist halt immer.“
„Jaja, irgendwas ist immer“, murmelt der Berber, der Dominik aufmerksam mustert.
Dominik fährt fort: „Und dann schämt man sich irgendwann und findet immer wieder Ausreden. Mal bessere, mal schlechtere. Auf jeden Fall geht man nicht hin. Irgendwann ruft man nicht mal an, weil dann müsste man sich ja erklären. Und man schämt sich doch so. Und so vergehen dann die Jahre.“
„Und so vergehen die Jahre“, echot der Bettler.
„Irgendwann denkt man sich nur noch: ‚Wenigstens habe ich ein schlechtes Gewissen!‘ Aber was nützt das, wenn der andere nichts davon weiß?“
„Nix“, bestätigt der Alte.
„Nix“, wiederholt Dominik mit einem Nicken. Er betrachtet den Obdachlosen nachdenklich „Warum haben sie sich eigentlich diesen zugigen Durchgang als Platz ausgewählt? Hier ist es doch kalt und nass und es kommt kaum jemand vorbei“, fragt Dominik und deutet auf die Büchse, in der sich nichts befindet außer den wenigen Münzen, die er selbst hinein geworfen hat.
„Sie wissen doch, mein Termin. Wie soll er mich denn finden, wenn ich nicht zu Hause bin?“, fragt der Alte und zwinkert ihm verschwörerisch zu.
„Ja natürlich. Den hatte ich vergessen“, gesteht Dominik.
Der Obdachlose nickt. „Dann sehen Sie mal zu, dass Sie Ihren nicht verpassen“, sagt er und deutet auf die Haustür.
„Sicher. Ich wünsche Ihnen schöne Feiertage“, nuschelt Dominik.
Er tastet nach dem kleinen Päckchen, das bequem in seine Manteltasche passt und hält es fest. Dann gibt er sich einen Ruck und tritt entschlossen vor die Haustür. Er betrachtet die Klingelschilder. Zehn Stück sind es insgesamt. Mit dem Finger fährt er über die fremden Namen, auf der Suche nach dem einen Bekannten. Doch er findet ihn nicht. Stutzig sieht er noch einmal nach. Ohne Erfolg. Ratlos blickt er sich um und bemerkt, dass der Berber ihn beobachtet. Kurz erwägt er, ihn nach dem gesuchten Bewohner zu fragen. In diesem Augenblick wird die Haustür von innen geöffnet. Eine bullige alte Dame in falschem Pelz steht im Hausflur. An der Leine führt sie einen altersschwachen Mops mit sich. Dominik spricht die Dame an. „Entschuldigung, können Sie mir sagen, ob der Herr Jakobi noch im Haus wohnt? Ich finde seinen Namen nicht auf den Schildern.“
Die Dame sieht ihn überrascht an und überlegt. „Nein, der wohnt schon lange nicht mehr hier. Wie lange ist das jetzt her? Acht Jahre ungefähr, da ist er hier ausgezogen.“
„Und wissen Sie zufällig, wohin er verzogen ist?“, fragt Dominik irritiert.
Die Dame zögert und betrachtet ihn eingehend. „Nein, tut mir leid“, antwortet sie schließlich. Dann zwängt sie sich an Dominik vorbei, den unglücklich drein blickenden Mops hinter sich herziehend. Dominik starrt noch auf die langsam zufallende Haustür, als die Dame dem alten Berber übertrieben laut zuruft: „Moin Hans!“
Eine Weile herrscht Schweigen, bis der Alte Dominik anspricht: „Tja, Sie haben Ihren Termin wohl verpasst. Aber ich, ich bin immer noch hier.“
Dominik zieht das Päckchen aus der Tasche und betrachtet es. Dann wirft er es dem Berber in seinen Lumpen zu. „Hier, das schenke ich Ihnen. Nach all den Jahren hätte es eh keinen Sinn gehabt.“ Mit diesen Worten eilt Dominik auf die Straße hinaus zu seinem nächsten Termin.
Der Alte nimmt das Päckchen und entfernt mit steifen Fingern das glänzende Papier. Als er den Deckel der darin verborgenen Schachtel öffnet, bricht er in schallendes Gelächter aus, das bald in einem schlimmen Hustenanfall endet. „Eine Armbanduhr wollte er mir schenken! Ausgerechnet!“, er holt seufzend Luft. „Die Zeit hat er immer im Blick, aber die Menschen wird er niemals sehen. Nicht einmal wenn er über sie fällt.“ Mit diesen Worten steht er auf, rafft sein Zeug zusammen und verlässt den zugigen Durchgang, mit einer nagelneuen Armbanduhr an seinem Handgelenk.

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